Machen uns die Ärzte krank?

 

Das Gesundheitssystem ist nach wirtschaftlichen Prinzipien organisiert. Es lebt von der Behandlung von Krankheiten. Ärzte und Krankenhäuser können also kein wirtschaftliches Interesse daran haben, dass die Menschen gesund sind. Sie leben von einer kranken Bevölkerung! Das soziale Anliegen der Versorgung von Kranken verträgt sich nicht mit den privatwirtschaftlichen Motiven Wirtschaftswachstum und Gewinnmaximierung. Diese Ziele würden mit mehr Krankheit erreicht, während das gesellschaftliche Ziel in mehr Gesundheit besteht.

 

Zwischen 1992 und 2015 sind die Ausgaben im Gesundheitswesen um 116 % gestiegen; die Lebenshaltungskosten haben sich im gleichen Zeitraum nur um 45 % erhöht. Die offizielle Begründung (der Ärztefunktionäre): technischer Fortschritt, gestiegene Lebenserwartung und Zivilisationskrankheiten. Gestiegen ist auch die Zahl der Ärzte, und zwar um 47 % und 1,45 × 1,47 ergibt 2,13; liegt also sehr dich an 2,16 (1,16 + 1). Hätten wir mehr Ärzte, weil die Gesellschaft sie braucht? Dann müssten erst die Krankheitskosten steigen (die Mehrarbeit würde von den existierenden Ärzten abgedeckt) und eigentlich erst mit einigen Jahren Verzögerung wegen der Ausbildung würde sich die Zahl der Ärzte erhöhen. Das war aber nicht der Fall! Die Zahlen im Einzelnen:  

    

 

Ausgaben

Ärzte

Ausgaben

Arzt-

 

Lebens-

 

Jahr

in Mio. €

in Tsd.

je Arzt

kosten

+/-

haltung

+/-

1992

159.504

251,9

633.204

72,6

 

73,8

 

2000

214.305

294,7

727.197

83,3

14,8%

85,7

16,2%

2005

242.409

308,8

785.003

90,0

7,9%

92,5

7,9%

2010

291.115

333,6

872.647

100,0

11,2%

100,0

8,2%

2011

296.617

342,1

867.048

99,4

-0,6%

102,1

2,1%

2012

304.230

348,7

872.469

100,0

0,6%

104,1

2,0%

2013

315.984

357,2

884.614

101,4

1,4%

105,7

1,5%

2014

329.198

365,2

901.418

103,3

1,9%

106,6

0,9%

2015

344.153

371,3

926.887

106,2

2,8%

106,9

0,2%

 

(Quelle: Statistische Bundesamt,

http://www.gbe-bund.de/oowa921-install/servlet/oowa/aw92/dboowasys921.xwdevkit/xwd_init?gbe.isgbetol/xs_start_neu/&p_aid=i&p_aid=71005848&nummer=522&p_sprache=D&p_indsp=-&p_aid=17821992

 und Statista, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/158869/umfrage/anzahl-der-aerzte-in-deutschland-seit-1990/ )

  

Die Zahlen sind eindeutig! Es gibt keine Zeitverzögerung. Arztkostenindex und Lebenshaltungskostenindex verlaufen ähnlich. Die Kostensteigerung beruht auf der Zahl der Ärzte!

  

Wer war zuerst da, das Huhn oder das Ei – bzw. die Krankheit oder der Arzt? Haben wir mehr Ärzte, weil wir krank sind, oder sind wir krank, weil wir mehr Ärzte haben? Ermittelt man die jährlichen Steigerungsraten ab 2011 bestätigt sich diese Schlussfolgerung:

 

 

Die Zahl der Ärzte steigt jedes Jahr um ca. 2 %, die Inflationsrate sinkt und die Kosten des Gesundheitswesens steigen kräftig an; die Ausgaben pro Arzt sogar noch etwas kräftiger. 2013 bis 2015 nimmt der Anstieg bei den Ärzten ab und auch die Gesundheitskosten steigen verhaltener. Das lässt den Schluss zu, dass Menschen für krank erklärt und behandelt werden, weil die steigende Zahl der Ärzte versorgt werden und auch ihr Einkommen steigern will. Ärzte sind Unternehmer und sie wollen ihre Therapien verkaufen. Z.B. gab es früher lebhafte Kinder; heute wird bei ihnen ADHS diagnostiziert und ihnen werden Psychopharmaka verschrieben. Bezahlen sollen die Krankenkassen und der Staat – also wir! Aber werden die Menschen davon gesünder?

 

Auch aus eigener Erfahrung (vor Jahrzehnten) kann ich ein Beispiel beitragen. Wegen einiger Löcher in den Zähnen ging ich zu einem Zahnarzt mit einem Ruf, besonders einfühlsam zu behandeln. Der stellte eine lange Liste von kariösen Zähnen fest und gab mir eine ebenso lange Liste mit Terminen, an denen er diese behandeln wollte; jeden Termin konnte er einzeln abrechnen. Ich verlor aber bald die Lust an den langen Wartezeiten und ging zu einem „Pferdeschlachter“ (ein altmodischer Zahnarzt, der ohne Rücksicht auf die Patienten alles sofort behandelte). Zu meinem Erstaunen stellte der aber nur ein einziges Loch fest, und die Behandlung war auch nicht sehr schmerzhaft. Der Kollege hatte noch 5 weitere Termine vorgesehen – wofür? Wollte er mir Löcher in gesunde Zähne bohren, damit er sie wieder füllen und jeweils eine Behandlung abrechnen konnte? Mit der o.g. Statistik könnte man auf diesen Gedanken kommen.

 

In in den letzten Jahren lesen wir immer wieder von Abrechnungsbetrug, z.B.

 

http://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/abrechnungsbetrug-im-gesundheitswesen-der-polizist-der-kriminelle-aerzte-in-berlin-jagt/19302974.html

 

http://www.iww.de/aaa/archiv/abrechnungsbetrug-strafrechtliche-vorwuerfe-gegen-aerzte-konsequenzen-und-verteidigungsstrategie-f39290

 

http://www.br.de/nachrichten/pflege-abrechnungsbetrug-netzwerk-100.html

 

http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-10/krankenkasse-aerzte-falschdiagnose-manipulation-abrechnung

 

http://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/panorama/nachricht-detail-panorama/gewerbsmaessiger-betrug-aerztin-wegen-abrechnungsbetruges-angeklagt/

 

https://www.asu-arbeitsmedizin.com/ASU-2013-4/Abrechnungsbetrug-bei-nicht-persoenlich-erbrachten-Leistungen,QUlEPTQwMzMyMCZNSUQ9MTEwNTc2.html

 

https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/assets/pwc-studie-zeigt-handlungsbedarf-fuer-krankenversicherungen.pdf

 

https://www.waz.de/staedte/bochum/abrechnungsbetrug-aerztin-erneut-zu-haftstrafe-verurteilt-id209929835.html

 

und wir zucken mit den Schultern, als wenn wir mit nichts anderem gerechnet hätten. Vom Abrechnungsbetrug ist die legale Abzocke zu unterscheiden. Betrug ist eigentlich nur die Abrechnung von Leistungen, die nicht erbracht wurden. Wenn aber - wie im Zahnarzt-Beispiel - ein Arzt eine überflüssige Behandlung für medizinisch notwendig erklärt und sie durchführt, ist das Arbeitsbeschaffung und kein Betrug. Und wenn man seinen Arzt beim Einkaufen trifft, der einen nach dem Ergebnis der letzten Behandlung fragt und man auf diese Frage antwortet, darf der Arzt schon eine Beratung in Rechnung stellen. Für Privatpatienten gibt es dann extra Abrechnungsgesellschaften, die den Arzt noch darüber informieren, was sie noch alles abrechnen können, weil die Versicherungen es anerkennen. Dass ein Patient erkennt, dass diese Leistungen in Wirklichkeit nie erbracht wurden, ist selten. Die Statistik mit der Kostenexplosion im Gesundheitswesen kann dann auch niemanden überraschen.

 

Wir glauben auch nicht jeder Werbung, die uns nutzlose Produkte aufschwatzen will. Warum glauben wir den Ärzten - weil die Krankenkasse bezahlt? Im September 2017 sind Bundestagswahlen, aber schon viele Gesundheitsminister haben sich an der Ärzte-Lobby die Zähne ausgebissen. Geld regiert die Welt – nicht die vom Volk gewählten Abgeordneten!

 

Zwei-Klassen-Medizin

 

Die Zwei-Klassen-Medizin ist dabei noch ein anderes Thema. Man sollte aber nicht unterschlagen, dass von Privatpatienten der 2,3fache Gebührensatz verlangt wird und von der GKV für Kassenpatienten der 0,9fache. Dann ist wohl auch klar, dass Privatpatienten dann sofort Termine bekommen und dabei mit überflüssigen Behandlungen und Medikamenten zugeschüttet werden. Dadurch sind auch die Beiträge hoch – von Privilegien kann also keine Rede sein. Auch die Privat-Patienten wären deshalb über eine Bürgerversicherung froh, nur nicht die Ärzte und die Versicherungen.

      

Was viele Menschen auch nicht wissen: Die meisten Kunden der privaten Krankenversicherungen sind Beamte. Der Staat verweigert seinen Staatsdienern die Arbeitgeberbeiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, unterhält stattdessen ein bürokratisches Beihilfesystem, und zahlt dabei 50 % der 2,3fachen Arzthonorare statt der 0,9fachen. Für die restlichen 50 % muss man eine private Krankenversicherung abschließen und dort auch noch den Ehepartner sowie die Kinder extra versichern, die in der gesetzlichen Krankenversicherung kostenfrei mitversichert wären. Das war ein Geschenk an eine Berufsgruppe, die früher zu den treuesten FDP-Wählern zählte. Ohne diese gigantische Steuerverschwendung für die verdeckte Subvention der Ärzte in den besseren Wohngegenden der Städte (Landärzte haben kaum etwas davon) wären die privaten Krankenversicherungen wie auch die Mafia der privatärztlichen Abrechnungseinrichtungen (die Ärzte zum Abrechnungsbetrug anstiften) nicht lebensfähig.

 

 

Wucherpreise für Medikamente

 
Ein weiterer Skandal sind die Arzneimittelpreise, die die Pharmaindustrie für ein Jahr einseitig festlegen darf (http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/streit-um-arzneimittelpreise-20-000-euro-fuer-ein-medikament/10344968.html). 2016 hat z.B. die Merck KGaA aus Darmstadt 11,6 % ihrer Umsätze für Verkaufs- und Werbedienstleistungen ausgegeben, 2015 waren es noch 10,8 %. Nicht dazu zählten die Personalkosten der eigenen Werbeabteilung. Auch diese Kosten werden zur Begründung der Preisforderungen angeführt und am Ende von den Krankenkassen bezahlt. Als Folge der Selbstbedienungsmentalität der Pharmaunternehmen werden natürlich Wucherpreise verlangt.
  
Bei Krebstherapien liegen die Kosten für ein Jahr Lebensverlängerung zwischen 60.000 und 160.000 €. (http://www.tagesspiegel.de/wissen/krebsbehandlung-160-000-euro-pro-lebensjahr/1045720.html) Würde man den unheilbar Kranken ein Behandlungsbudget von 110.000 € (= Mittelwert) mit einem Wahlrecht anbieten, sich bei Verzicht auf eine lebensverlängernde Behandlung den Betrag auszahlen zu lassen, dann würde sicher die große Mehrheit der Patienten lieber das Geld nehmen und ihren Kindern geben, als ihr Leben mit schlechter Lebensqualität um einige Monate zu verlängern. Sie entscheiden sich nur dann für die teure Therapie, wenn nicht die eigenen Kinder, sondern die große Masse der Beitragszahler mit den Kosten belastet wird.

 

 

internationaler Vergleich

 

Unsere medizinische Überversorgung ist ethisch nicht zu rechtfertigen. Bei uns werden von den Krankenkassen 100.000 € ausgegeben, um das Leben und Leiden eines Krebspatienten um ein Jahr zu verlängern. In Afrika sterben Kinder, weil sich ihre Familien ein Medikament für 10 € nicht leisten können. Ist ein Jahr Leben eines Lungenkrebspatienten, der als Raucher seine Gesundheit selbst geschädigt hat, wirklich so wiel wert wie das Leben von 10.000 afrikanischen Kindern, die jeweils noch 70 Jahre vor sich haben? "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich!" (Art. 3 Abs. 1 GG)

 

Nun will niemand die Niveauabsenkung unseres Gesundheitswesens auf das afrikanischer Länder. Man kann sich aber durchaus an anderen OECD-Ländern orientieren. Deutschland gab 2013 11 % seines Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen aus. Damit lagen wir international an 5. Stelle der OECD-Länder. Finnland hatte 8,6 %, Großbritannien 8,5 %, Estland kam mit 6 % aus. Würde man die Kosten auf den OEDC-Durchschnitt von 8,9 %, das Niveau von Norwegen (kein armes Land!) drücken können, hätte man 2013 25,2 % der Kosten oder knapp 80 Mrd. € eingespart. 

 

Abbildung: Gesundheitsausgaben in % des Bruttoinlandsprodukts

Quelle: OECD Health Statistics 2015, http://www.oecd.org/berlin/presse/Health-Statistics-Deutschland-Laendernotiz.pdf

 

Staatliche Gesundheitssysteme schaffen zu vertretbaren Kosten eine ordentliche Durchschnittsversorgung, aber kaum medizinische Spitzenleistungen. Extrem privatisierte Systeme (z.B. USA) schaffen eine Spitzenmedizin für wenige und eine schlechte Versorgung für die breite Masse. Die USA sind dabei noch 50 % teurer als Deutschland, das auch auf privat wirtschaftende Ärzte setzt. Dann stehen aber auch private Gewinninteressen und nicht die Versorgung der Kranken im Vordergrund. Bei einem sozialen Anliegen sind privatwirtschaftliche Gestaltungen deshalb ein Widerspruch und nicht effektiv.

  

Man muss den Gedanken aufgeben, dass das Gesundheitssystem ein Rundum-Wohlfühl-Paket anbieten und auch bezahlen kann. Es müssen die elementaren Risiken abgedeckt werden und auch größere Kosten können gerechtfertigt werden, wenn man ein Leben dauerhaft retten kann. Natürlich würde man auch das Leben sehr alter Menschen retten, die wahrscheinlich bald an einer anderen Erkrankung sterben würden und wo die Lebensrettung im Ergebnis nur eine Lebensverlängerung wäre. Die künstliche Verlängerung des Sterbeprozesses auf Kosten der Allgemeinheit, auch wenn kein ausdrücklicher Widerspruch in einer Patientenverfügung vorliegt, ist aber nicht zu rechtfertigen.

  

 
Siehe auch: Falsche Diagnosen: Wenn Patienten zur Einnahmequelle werden, ARD- plusminus, 25.01.17, http://www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/falsche-diagnosen-102.html

 

 

Auf Grundlage einer aufwendigen Datenanalyse begibt sich der Film auf eine Reise ins Schattenreich der Gesundheitswirtschaft, in der jedes Jahr mehr als 300 Milliarden Euro umgesetzt werden. Er führt in Regionen, wo Patientinnen und Patienten auffällig häufig unters Messer.

 

 

politische Forderungen

 

Zu meinem Text wurde ich vom gesundheitspolitischen Sprecher der Kleinpartei „Deutsche Mitte“ (Hans Tolzin) angesprochen. Zunächst hatte ich die Aussagen meiner Website zu 6 Thesen bzw. politischen Forderungen zusammengefasst. Die hat Herr Tolzin kommentiert und ich habe ihm geantwortet. Ich möchte der Öffentlichkeit diesen gesundheitspolitischen Dialog zur Kenntnis geben.

 

   

Bei Ausgaben auf dem OECD-Durchschnittsniveau (das erreicht Norwegen) wären auf lange Sicht 25 % oder 80 € Mrd.  einzusparen.

  

Tolzin:

Als Medizin-Journalist sehe ich das Problem in der enormen Einflussnahme durch die Pharmaindustrie und sonstigen Eigeninteressen. Beides muss zurückgedrängt werden, denn das führt zu einer profitorientierten Medizin, die z. T mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Viele Alternativverfahren sind wesentlich günstiger und gleichzeitig effektiver und könnten sich durch Deregulierung des Gesundheitssystems und der Erstattungsfähigkeit entfalten, was letztlich die Kosten senkt und eine gesündere Bevölkerung zur Folge hat – und in günstigeren Tarifen mündet. Gleichzeitig müssen die wahren Krankheitsursachen offen beim Namen genannt werden: Umweltgifte, Medikamentenvergiftungen, denaturierte Nahrung, E-Smog etc. Das geht nur, wenn wir als DM – und Regierungspartei - sauber bleiben und Lobbyisten draußen halten. Was eine echte Herausforderung für sich darstellt.

  

Entgegnung:

Die Formulierung eines Zieles erfordert zwingend auch eine Wegbeschreibung. Dort steckt der Teufel im Detail und es wäre wohl eine ewige Baustelle.  80 Mrd. € lassen sich nicht im Handumdrehen einsparen. Eine ganzheitliche Gesundheitspolitik mit stärkerer Berücksichtigung der von Ihnen angesprochenen Umweltgifte, übermäßiger Medikamentenkonsum etc. gehört sicher dazu. Ebenso muss sich wieder die Erkenntnis durchsetzen, dass unser Leben nicht unendlich lang sein kann und dass es nicht das politische Ziel sein kann, ohne Rücksicht auf die Kosten auch noch die letzten Wochen und Monate mit schlechter Lebensqualität aus unseren Körpern herauszupressen. Wir müssen wieder akzeptieren lernen, dass ein Körper im Alter auch teilweise verschlissen ist und man kürze dann treten muss. Weniger ist mehr! Wer länger gesund bleiben möchte, muss dafür gesünder leben, Sport treiben, … .

  

Die aktuelle Gesundheitspolitik ist angebotsgesteuert. Es wird gekauft und bezahlt, was die Gesundheitsindustrie anbietet. Die Ärzte verordnen und die Patienten schlucken. Stattdessen wird ein nachfragegesteuertes System gebraucht. Und bei der Nachfrage geht es um mehr Gesundheit, also auch um die Verhinderung statt die Behandlung von Krankheiten. Eine nur Idee wäre, z.B. ungesunden Lebensmittel die Steuerbegünstigung mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz ( 7 statt 19 % ) zu entziehen. Das müsste aber genauer, nicht übermäßig bürokratisch und vor allem gerichtsfest ausformuliert werden. 

  

Die Dreiecksbeziehung zwischen Patienten, Arzt und Versicherungen macht Deregulierungen schwierig. In diesem System können nicht wirklich Preise frei verhandelt werden. An Leistungskatalogen und Gebührenordnungen wird dann kein Weg vorbeiführen. Alternativ könnte man nur über lokale Gesundheitszentren für die ambulante Versorgung nachdenken, für die wie in den Krankenhäusern die Ärzte als Angestellte tätig wären. Sie hätten ein größeres Gewicht als einzelne Ärzte mit kleinen Praxen (= Verhandlungsmacht) und man könnte ihnen ein ausreichend bemessenes Pauschalbudget zuteilen. Dann wäre das Gesundheitszentrum wirtschaftlich an Gesundheit und nicht an der Behandlung von Krankheiten interessiert. Die Trägerschaft müssten dann die Kommunen übernehmen, die den Bedarf ihrer Bevölkerung am Ehesten formulieren könnten. Das müsste aber vorab mit Modellversuchen erprobt werden. Eine Regionalisierung und Selbstverwaltungsstrukturen wären in einer Bürgerversicherung ohne KVs nicht ausgeschlossen.

  

Eine pauschale Erstattungspflicht für Methoden der Alternativmedizin birgt ähnliche Gefahren wie aktuell die Preisfestsetzung durch die Pharmaindustrie. Theoretisch könnte jeder Heilpraktiker eine Wirksamkeit seiner Methoden einfach nur behaupten. Wissenschaftliche Studien für ihren Nachweis könnte keiner von ihnen bezahlen. Einen Antrag bei der Bürgerversicherung auf Abschluss eines Versorgungsvertrags und eine Prüfung durch die Versicherung muss es wohl schon geben. Wenn eine Wirksamkeit alternativer Methoden zu erwarten ist, wird die Bürgerversicherung sie aber schon aus Eigeninteresse in ihr Angebot aufnehmen. Die KVs haben hier bisher gebremst und blockiert. Trotzdem werden Alternativmethoden wohl noch auf längere Zeit Nischenprodukte bleiben. Bei nachgewiesenem Erfolg würden sie sich durchsetzen. 

  

Ich habe den Eindruck, dass sich die Schulmedizin und die Alternativmedizin jeweils in Informationsblasen befinden. Jeder hält die jeweils anderen für unseriös und glaubt nur an die eigenen Quellen. Man muss den Dialog zwischen beiden Lagern fördern und nicht den Kulturkampf. Mit der Entmachtung der KVs und einer den Interessen der Bevölkerung verpflichteten Bürgerversicherung wären die Voraussetzungen für eine konstruktive Diskussion über die Modalitäten eines „sowohl als auch“ gegeben.

    

- Fusion der gesetzlichen Versicherungen und Beihilfestellen zu einer Bürgerversicherung; damit entfällt die Geschäftsgrundlage der PKV.   

und

- Einbau eines Regionalfaktors in die GOÄ mit höheren Vergütungen für Dörfer und Kleinstädte und niedrigeren für Großstädte.

  

Tolzin zur Fusion:

Das sehe ich als ein akzeptables mittelfristiges bis langfristiges Ziel. Das Problem ist allerdings, dass sich der Zentralismus, der dadurch verschärft wird, nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip und einer echten Selbstverwaltung verträgt. Je zentralistischer, desto mehr Macht haben diejenigen, die an der Spitze der Hierarchie stehen. Je zentralistischer, desto leichte fällt es den Finanz- und Pharmakartellen der Lobbyismus und die Einflussnahme. Das lässt sich gegenwärtig meines Erachtens gar nicht verhindern - oder eben nur durch sehr durchgreifende dirigistische Maßnahmen, die ich gerne vermeiden würde. Stattdessen würde ich auf Vielfalt setzen, auf Aufwertung der Sozialwahlen bzw. der Verwaltungsräte, auf völlige Unabhängigkeit der GKV, auf fairere Abrechnungsverfahren für Kassenärzte und Kliniken.

 

Das Ziel wäre, eine noch nie gesehene Dynamik anzustoßen, weil nun plötzlich Naturheilkunde und sonstige Alternativmedizinische Verfahren gleichberechtigt abgerechnet werden können, wenn die GKVs bzw. ihre Verwaltungsräte dies möchten. Erst dann hätten wir einen echten Wettbewerb unter den Versicherungen.

  

Tolzin zum Regionalfaktor:

Das wäre etwas, was die Versicherungen mit den Kommunen und Landkreisen frei verhandeln könnten. Ich würde das als Gesundheitsminister nicht vorgeben wollen.

  

Entgegnung:

Mein zentrales Anliegen zu diesem Punkt ist die Zusammenführung von GKV, PKV und Beihilfestellen. Das ließe sich auch relativ kurzfristig organisieren. Ich fürchte, dass sich der Staat für seine Beamten aus der Verantwortung stehlen und bei Ihnen abkassieren wird. Es muss klargestellt werden, dass die jetzigen Beihilfen durch den Arbeitgeberbeitrag abgelöst werden, der dann auch vom Staat an die Bürgerversicherung überwiesen werden muss statt die eingesparten Beihilfen im allgemeinen Haushalt versickern zu lassen.

  

Das Zentralismus-Problem schätze ich anders ein als Sie. Die Lobbys sind zentral organisiert und dadurch durchsetzungsstark. Dem muss die geballte Macht der Versicherten entgegengesetzt werden. Das gilt besonders für die Pharma-Industrie. Wenn man z.B. die Verhandlungsposition „für das Medikament X zahlen wir nur 10 € die Packung, sonst nehmen wir es gar nicht“ vertritt, dann darf nicht der Süden 12 € anbieten und dem Norden in den Rücken fallen. Der Markt wird es nicht befriedigend regeln, mit dem Subsidiaritätsprinzip ließe man sich nur auseinanderdividieren. Bei den Löhnen werden auch Tarifverträge zwischen zwei Kartellen verhandelt, und es funktioniert. 

  

Die völlige Tariffreiheit gegenüber Ärzten und Heilpraktikern wäre leichter durchführbar, aber trotzdem verwirrend und am Ende auch zu bürokratisch. Warum soll in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt jede ärztliche Leistung individuell bewertet und ein Preis mit den Ärzten vereinbart werden? Es wäre mindestens rationeller, eine zentrale GOÄ und einen lokalen bzw. individuellen Multiplikator zu haben. Den könnte man auch im Einzelfall festlegen, wie z.B. bei dem Hebesatz der Gewerbesteuer, deren Steuermessbetrag nach dem bundeseinheitlichen GewStG errechnet wird. Ein zentral festgelegter Regionalfaktor (Abschlag für Großstädte, Zuschlag für Dörfer und Kleinstädte) wäre aber eine schnell wirksame Sofortmaßnahme zur Beseitigung des Landärztemangels, bis eine Bürgerversicherung mit entmachteten KVs arbeitsfähig wäre. Je schlechter die Versorgung, umso höher wäre der Multiplikator. Dann können sich die Ärzte entscheiden, ob sie als Landarzt zu dem angebotenen hohen Multiplikator arbeiten wollen, ob sie vielleicht noch ein besseres Angebot finden oder ob sie lieber trotz eines niedrigen Multiplikators in der Großstadt leben wollen. Den Multiplikator könnte man ggf. auch noch nach der Qualifikation der Ärzte differenzieren; jung oder erfahren, promoviert oder nicht, Facharzt oder nicht … . Verhandlungspartner wären aber nicht die Versicherungen und die Landkreise, sondern die Versicherung müsste den Ärzten in unterversorgten Regionen attraktive Angebote machen und könnte in überversorgten Gegenden (nach Ablauf eines befristeten Vertrags) die Honorare drücken.

    

- Übertragung der Altersrückstellungen der PKV an die Bürgerversicherung. 

 

Tolzin:

Haben wir das nicht schon seit ein paar Jahren, dass die Versicherten diese Rückstellungen mitnehmen dürfen? Müsste mich dazu nochmal genau informieren. Ansonsten: Volle Übereinstimmung. Wobei ich wie oben schon angedeutet, den GKV volle Erstattungs- und Tariffreiheit zugestehen würde.

  

Entgegnung:

Diesen Titel habe ich nach meiner persönlichen Erinnerung und nicht nach einer intensiven Recherche formuliert. Vielleicht haben Sie recht. Vor einigen Jahren wurde in der PKV ein Zusatzbeitrag eingeführt, der – so hatte ich die Begründung verstanden – offen und 1:1 in eine Rückstellung übertragen wird. Aber auch schon früher wurden Alterungsrisiken pauschal in den Beiträgen kalkuliert und hierfür steuermindernde Rückstellungen gebildet. Diese anteilige Pauschalrückstellung kann man schon aus organisatorischen Gründen nicht beim Versicherungswechsel mitnehmen. Die müssten sich auch noch in den Bilanzen der Versicherungen befinden. Weil mit dem Zusatzbeitrag die früheren Beiträge nicht gesenkt wurden, müssten nach meinem Verständnis beide Positionen nebeneinander existieren. Ausrecherchiert habe ich diese Frage aber nicht. Auf jeden Fall sollte verhindert werden, dass die PKV das Alterungsrisiko auf die Bürgerversicherung abwälzt und die PKV die dafür steuerbegünstigt gebildeten Rückstellungen (ob individuell ausgewiesen oder pauschal) behalten und als Gewinn an die Aktionäre ausschütten darf.

    

- Abschaffung der Kassenärztlichen Vereinigungen.

 

Tolzin:

Nicht nur das, ich würde das ganze Abrechnungsverfahren sowohl für Kassenärzte als auch für Kliniken verändern. Und zwar in erster Linie zeitbasiert, mit einem Multiplikator für getätigte Investitionen und unabhängig von der angewandten Therapieform

  

Entgegnung:

Im Gegensatz zur Einführung einer Bürgerversicherung sehe ich ein neues Abrechnungssystem als eine langfristige Angelegenheit an. Man weiß, was man hat, aber man weiß nicht, was man bekommt! Zeitaufschreibungen lassen sich noch leichter manipulieren als Diagnosen. Hier sehe ich noch einigen Klärungsbedarf. Mir schwebt eher eine umgekehrte Logik der Versorgungsverträge vor: ein monatliches Fixum für die Leistungsbereitschaft einschl. Investitionen und fall(zahlen)bezogene Zusatzbeträge. 

  

Ein Multiplikator für Investitionen könnte die Apparatemedizin unverhältnismäßig fördern. Gerade eine ganzheitliche Gesundheitspolitik sollte mehr auf die persönliche Beratung des Arztes setzen. Wenn sich in den nächsten Jahren Diagnosecomputer durchsetzen, die auch von MTAs bedient werden können, dann sollte diese technische Unterstützung genutzt und auch honoriert werden. Das könnte auch noch einer Entscheidung, ob wir überhaupt zum Arzt müssen und zu welchem, vorgeschaltet werden. Mit der Praxistauglichkeit dieser Technik wäre dann eine saubere Trennung zwischen kommunalen Gesundheitszentren (mit Diagnosecomputern, MTAs und wenigen angestellten Allgemeinmedizinern) und freiberufliche Fachärzten möglich, an die das Gesundheitszentrum überweisen könnte. Generell sollten die Maschinen aber trotzdem von einem Arzt beherrscht werden und nicht den Arzt beherrschen.

  

Die von mir angedachte Arbeitsteilung würde den Bedarf an Ärzten enorm reduzieren. Viele teuer ausgebildete Mediziner müssten ins Ausland abwandern – Ärzte ohne Grenzen! 

    

- Abschluss von Versorgungsverträgen der Bürgerversicherung mit den niedergelassenen Ärzten zunächst auf Basis der GOÄ und GOZÄ. Mittelfristig sind Fallpauschalen wie bei den Krankenhäusern zu entwickeln.

  

Tolzin:

Die Fallpauschalen bei den Krankenhäusern haben sich als Eigentor erwiesen. Da war die Pflegetagepauschale noch besser, wenn auch nicht ideal.  Ich möchte das den Krankenversicherungen überlassen. Gleichzeitig würde ich die angestoßene Dynamik wissenschaftlich begleiten und auswerten lassen. Was sich als gut erweist, wird besonders gefördert und auch im Rahmen einer vom Staat zusätzlich angebotenen GKV übernommen.

  

Entgegnung:

Ich kann momentan nicht erkennen, worin der Schuss nach hinten bei den Fallpauschalen besteht.

  

1991 war ich für 5 Monate (nachdem meine Stelle bei einem quasi-staatlichen Verein weggefallen ist und man nach einem Ersatzangebot für mich suchte) Leiter Finanz- und Rechnungswesen in einem staatlichen Krankenhaus und habe damit nur einen ersten Einblick in das System erhalten. Die Pflegetage waren damals eine reine Stellschraube, um die 99-%ige Auslastung zu erreichen. Es wurden immer genug gesunde Patienten als Entlassungsreserve zurückgehalten. Samstags wurden nur so viele Patienten entlassen, wie für die zu erwartenden Verkehrsunfallopfer gebraucht wurden. Wenn die nicht reichten wurden am Sonntagmorgen noch Patienten aus der Entlassungsreserve nach Hause geschickt.  Ich habe noch von den praktischen Schwierigkeiten bei der Kalkulation von Fallpauschalen einen Eindruck bekommen, ihre Einführung war aber nach meiner Zeit.

  

Das politische Ziel der DRGs war die Aufdeckung von Überkapazitäten und die Schließung unrentabler Krankenhäuser und Abteilungen. Nach meiner Wahrnehmung kam es auch dazu – ob in ausreichendem Umfang will ich nicht beurteilen. Ich kann nicht erkennen, dass z.B. 6 statt 8 Großkliniken in einer Millionenstadt zu Versorgungseinschränkungen führen würden. Wenn das Stadtkrankenhaus einer Kleinstadt geschlossen wird und die Bürger an ein 30 km entferntes Kreiskrankenhaus verwiesen werden, könnte das dagegen im Einzelfall auch tödlich sein. In solchen Fällen kann ich verstehen, wenn eine Bürgerinitiative den Erhalt ihres Stadtkrankenhauses fordert. Andererseits kann man auch nicht alle paar Kilometer einen Rettungswagen stationieren, nur weil hier irgendwann einmal ein Unfall passieren könnte. Und ein schneller Rettungswagen rettet mehr Leben als ein nahes Krankenhaus. Es geht immer um schwierige und folgenschwere Abwägungen. Ein Gesundheitssystem, das jeden Kranken oder Verletzten retten kann, wird es nie geben.

  

Ich glaube nicht, dass das System der DRGs perfekt ist. Es hat die Nebenwirkung, dass nun immer gravierendere Erkrankungen diagnostiziert werden als in Wirklichkeit vorliegen. Hier müsste noch gegengesteuert werden. Man könnte aus einer automatisierten Abspeicherung von Diagnosedaten computergesteuerte Plausibilitätskontrollen (weil keine Daten übertragen, sondern auf dem Server maschinell analysiert werden besteht auch kein Datenschutzproblem) entwickeln, die wirtschaftlich motivierte Falschdiagnosen erkennen lassen. Eine verbale Diagnose kann man fälschen, dazu passende falsche Mess- und Laborwerte aber nicht plausibel erfinden. Schon das Wissen von der Existenz der Diagnosesoftware im Hintergrund würde einen Teil der vorsätzlichen Falschdiagnosen verhindern. 

  

Dass in Deutschland zu oft und zu früh operiert wird, wäre aber auch im alten System so gekommen. Es wurden auch früher Sonderentgelte für schwierige und aufwendige Eingriffe kalkuliert, und die haben schon zu meiner Zeit zugenommen. Der Anreiz war vielleicht sogar größer, weil Sonderentgelt + Pflegesatz abgerechnet wurde.  Hier darf man aber nicht erst im Krankenhaus, sondern muss schon bei den einweisenden Ärzten ansetzen. Zu dieser möglichen Nebenwirkung der DRGs habe ich aber nichts recherchiert. Ich lasse mich auch gern eines Besseren belehren.

  

 

 

„Rette sich, wer kann. Das Krankensystem meiden und gesund bleiben“
Der Autor Sven Böttcher erklärt das Gesundheitssystem als globalen Wirtschaftsfaktor und menschenfeindliche Maschine.         https://multipolar-magazin.de/artikel/die-krankheitsmaschine

 

 

 

 

Meine Seite wird noch immer so oft geklickt, dass sie auch ohne Suchmaschinen-optimierung (ist im kostenlosen Paket nicht enthalten) bei Google gut gefunden wird. Am 14.10.19 hatte ich bei der Eingabe "machen uns die ärzte krank?" die Position 5 (von 7.820.000) der Trefferliste.