Schießbefehl auf Spaziergänger?


Auf https://reitschuster.de/post/stadt-droht-spaziergaengern-mit-waffengewalt/ wird über eine Allgemeinverfügung berichtet, mit der gemeinschaftliche Spaziergänge in der Stadt verboten werden und den Teilnehmern, mit Waffengewalt gedroht. Hiergegen habe ich Widerspruch eingelegt, weil ich Ostfildern jetzt nicht für einen Spaziergang besuchen kann. Über den Text meines Widerspruchs informieren ich hier:

30. Januar 2022

Stadt Ostfildern
Klosterhof 10
73760 Ostfildern
stadt@ostfildern.de


Widerspruch gegen Ihre Allgemeinverfügung vom 26.01.22 auf https://www.ostfildern.de/Politik+_+Verwaltung/Bekanntmachungen/Allgemeinverfügung.html


Sehr geehrte Damen und Herren,

gegen Ihre Allgemeinverfügung vom 26.01.22, Bekanntmachung am 27.01.22, wird Widerspruch eingelegt. Die Untersagung von gemeinschaftlichen Spaziergängen in Ihrer Stadt ist für das behauptete Ziel des Schutzes des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ungeeignet, nicht erforderlich und unverhältnismäßig. Das gilt insbesondere für die Androhung des Schusswaffengebrauchs zur Verhinderung von Spaziergängen in Ihrer Stadt.

Ich von der Allgemeinverfügung persönlich betroffen, weil mir faktisch untersagt wird, ihre Stadt zu besuchen und mich dort mit anderen Menschen zu einem gemeinsamen Spaziergang zu treffen.


G r ü n d e :

Der Wortlaut der gesetzlichen Ermächtigung der Grenztruppen der DDR in § 27 Abs. 2 des Gesetzes über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. März 1982 (Grenzgesetz) zum Schusswaffengebrauch zur Verhinderung von illegalen Grenzübertritten ist mit der von Ihnen in Ihrer Allgemeinverfügung zitierten Fundstelle § 64 Abs. 1 PolG-BW vergleichbar. Gleiches gilt für den Vergleich von § 27 Abs. 1 Grenzgesetz mit § 67 Abs. 1 PolG-BW. Weil die Ermächtigung der Grenztruppen zur Anwendung unmittelbaren Zwangs in den Medien als „Schießbefehl“ bezeichnet wurde, halte ich dieses Wort auch zur Beschreibung Ihrer Allgemeinverfügung für angemessen.


Die Maßnahme ist nicht geeignet!

In der Begründung Ihrer Allgemeinverfügung erklären Sie, damit das Recht auf Leben schützen zu wollen. Ein Schießbefehl zur Unterbindung von Spaziergängen ist aber nicht geeignet, das Recht auf Leben zu schützen. Vielmehr sind Waffen gefährliche Gegenstände, von denen eine Gefahr für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ausgeht.


Die Maßnahme ist nicht erforderlich!

Von Spaziergängern in Ihrer Stadt geht keine Gefahr für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus. Grundrechte sind Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. GG verbietet also dem Staat, Menschen zu töten. Selbst ein Amokläufer, der wahllos auf Menschen schießt, würde kein Grundrecht verletzten, denn Grundrechtsverletzungen können definitionsgemäß nur von Staat ausgehen. Natürlich hätte der Staat eine andere Handhabe als die Berufung auf Grundrechte, um gegen den Amokläufer vorzugehen. Eine Grundrechtsverletzung läge aber nur dann vor, wenn der Amokläufer ein Amtsträger wäre, z.B. ein Polizist, der auf Spaziergänger schießt - oder ein Bürgermeister, der den Schusswaffengebrauch der Polizei gegen Spaziergänger anordnet.

Weil von Spaziergängern, die keine Amtsträger sind, definitionsgemäß selbst dann keine Grundrechtsverletzung ausginge, wenn sie während ihres Spaziergangs Viren an andere Spaziergänger verbreiten würden, kann die Einschränkung von Grundrechten der Spaziergänger nicht mit Hinweis auf Art. 2 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden.

Art. 2 Abs. 2 GG vermittelt keinem Menschen ein Recht auf ein ewiges Leben! Krankheiten und Unfälle sind höhere Gewalt. Der Staat ist nicht von Verfassung wegen verpflichtet, sie zu verhindern. Und er wäre auch nicht in der Lage, für ein ewiges Leben auch nur eines einzigen Menschen zu sorgen und zu verhindern, dass er eines Tages an einer Krankheit oder einem Unfall sterben wird. Auch aus diesem Grund wäre die unbeabsichtigte Verbreitung von Viren keine Grundrechtsverletzung; etwas Anderes wäre nur die absichtliche Verbreitung durch den Staat, z.B. durch den Einsatz biologischer Waffen.


Die Maßnahme ist unverhältnismäßig!

Neben dem Abwehrrecht beinhaltet Art. 2 Abs. 2 GG auch einen Schutzauftrag des Staates. So kann aus Art. 2 Abs. 2 GG eine Verpflichtung des Staates abgleitet werden, Mord und Totschlag unter Strafe zu stellen. Die Befolgung dieses Auftrags steht aber unter dem Gebot der strikten Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Bei der Strafverfolgung von Tötungsdelikten in ihrer aktuellen Intensität wird dieser Grundsatz unstrittig befolgt. Trotzdem verzeichnete die polizeiliche Kriminalstatistik für Deutschland in 2020 2.401 Tötungsdelikte, 86 mehr als in 2019. Wollte man auch diese 2.401 Fälle verhindern, indem jeder Bürger vorsichtshalber eingesperrt würde, weil er in Freiheit ja theoretisch einen Mord begehen könnte, so wäre das unverhältnismäßig. Das würde auch gelten, wenn er sich zur Wiedererlangung seiner Freiheit „freiwillig“ einen Chip implantieren lassen könnte, damit die Polizei jederzeit bei einer Straftat feststellen könnte, welcher Bürger sich zur Tatzeit am Tatort aufgehalten hätte, und so die Bürger wegen der sehr wirksamen Strafverfolgung von der Begehung von Straftaten abgeschreckt würden. Uneinsichtige Chip-Verweigerer müssten dann eingesperrt bleiben, und ihnen würde nur gelegentlich Ausgang unter polizeilicher Aufsicht ewährt. Ein solcher Überwachungsstaat wäre aber kein Land, in dem ich Leben wollte.

In 2020 gab es in Deutschland auch 2.724 tödliche Verkehrsunfälle, 322 weniger als in 2019 und 1970 waren es nur in der alten BRD 21.332. Wollte man selbst die aktuell sehr geringe Zahl noch verhindern wollen, so müsste man im Autoland Deutschland den Betrieb von Kraftfahrzeugen völlig verbieten, was aber wohl einen Volksaufstand auslösen würde.   

Weil es unverhältnismäßig wäre jeden Menschen als potentiellen Mörder oder Totschläger zu betrachten und ihn prophylaktisch einzusperren oder total-zu-überwachen, wäre es auch unverhältnismäßig, jeden gesunden Menschen zur Gefahr für die Allgemeinheit zu erklären, weil er theoretisch ein Virus übertragen könnte. Weil es unverhältnismäßig wäre, zur Verhinderung tödlicher Verkehrsunfälle den Betrieb von Kraftfahrzeugen zu verbieten, ist es auch unverhältnismäßig, zur Verhinderung von Infektionskrankheiten gemeinschaftliche Spaziergänge zu verbieten.

Weil der Staat zu einem vollumfänglichen Schutz der Bevölkerung gar nicht in der Lage ist, kann die theoretische Möglichkeit, dass aus einer konkreten Situation eine Gefahr entstehen könnte, für die Beschränkung von Grundrechten nicht ausreichen. Von gemeinschaftlichen Spaziergängen in Ihrer Stadt müsste schon eine sehr wahrscheinliche Gefahr für die Allgemeinheit und nicht nur für die Teilnehmer an den Spaziergängen ausgehen, damit ihre Unterbindung allein mit dem Schutzauftrag gerechtfertigt werden könnte. Die Teilnehmer haben in ihre Selbstgefährdung eingewilligt, weshalb Art. 2 Abs. 2 GG einen Eingriff des Staates verbietet, solange von ihnen keine konkrete Gefahr für Dritte ausgeht. Für Beides tragen Sie die Darlegungs- und Beweislast. Der allgemeine Hinweis auf Inzidenzzahlen reicht dafür nicht aus.

Völlig unverhältnismäßig ist die Androhung von Waffengewalt in der Begründung Ihrer Verordnung, wie auch die Androhung des Schusswaffeneinsatzes an der DDR-Grenze unverhältnismäßig war. Es wird nochmals betont, dass die Verhältnismäßigkeit erst zu prüfen wäre, wenn das Verbot von gemeinschaftlichen Spaziergängen und die Androhung des Schusswaffengebrauchs zu ihrer Unterbindung zum Schutz des Rechts auf Leben geeignet und notwendig wären, was hier bestritten wird.

Angesichts der vorgetragenen Gründe ist Ihre Allgemeinverfügung verfassungswidrig und damit nichtig. Das haben Sie mit der Rücknahme festzustellen.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Werner Müller

 

Am 31.01.22 hat die Stadt Ostfildern in einer Pressemitteilung erklärt:

„In der Allgemeinverfügung wurde lediglich korrekterweise darauf hingewiesen, dass ein Versammlungsverbot auch zwangsweise durchgesetzt werden kann und welche Bandbreite an Einsatzmitteln der Polizei allgemein - für verschiedene Einsatzlagen - per Gesetz zur Verfügung stehen.“ (https://www.bw24.de/baden-wuerttemberg/esslingen/waffengewalt-ostfildern-schiessbefehl-corona-gegner-demonstrationen-polizei-allgemeinverfuegung-91271901.html)

Auch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, dem die Grenztruppen unterstellt waren (sie galten wegen der entmilitarisierten Zone entlang der Grenze wie der Bundesgrenzschutz als Polizeieinheit), hat seinerzeit korrekterweise auf die Regelung in § 27 Abs. 1 Grenzgesetz hingewiesen, der mit § 64 Abs. 1 PolG-BW vergleichbar ist. Trotzdem wurde dieser Hinweis in den Medien der Alt-BRD als „Schießbefehl“ bezeichnet. Wann hatten die Mainstream-Medien Recht; jetzt, oder damals? Mindestens erleben wir eine schleichende Erosion des Rechtsstaats. (diese auch unter Politik)



Quellen:

 

Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (Grenzgesetz) vom 25. März 1982
§ 27     Anwendung von Schußwaffen
(1) Die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Die Schußwaffe darf nur in solchen Fällen angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Die Anwendung von Schußwaffen gegen Personen ist erst dann zulässig, wenn durch Waffenwirkung gegen Sachen oder Tiere der Zweck nicht erreicht wird.
(2) Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind.

Anmerkung: Der illegale Grenzübertritt war in der DDR ein Verbrechen.


PolG-BW

§ 64    Begriff und Mittel des unmittelbaren Zwangs
(1) Unmittelbarer Zwang ist jede Einwirkung auf Personen oder Sachen durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch.

§ 67    Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs
(1) Der Schusswaffengebrauch ist nur zulässig, wenn die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs vorliegen und wenn einfache körperliche Gewalt sowie verfügbare Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder mitgeführte Hiebwaffen erfolglos angewandt worden sind oder ihre Anwendung offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Auf Personen darf erst geschossen werden, wenn der polizeiliche Zweck durch Waffenwirkung gegen Sachen nicht erreicht werden kann.

 

 

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